Nur wenige Regionen sind trockener als die Atacama-Wüste in Chile und doch erzählt sie lebendige Geschichten und Legenden. Von früher und von heute, von ersten Siedlern und von engagierten Oasenbewohnern.
Der Legende nach verliebten sich einst Láscar und Licancabur, zwei Brüder und majestätische Vulkane der Anden, in die schöne Juriques, die nach einiger Zeit dem Werben Licancaburs nachgab. Aus Trauer weinte Láscar, bis seine Tränen einen großen Salzsee bildeten. Doch schon bald sollte aus Schmerz Wut werden: Láscar fing an, Feuer zu spucken, woraufhin der See austrocknete. Zurück blieb das Salz und mit ihm einer der faszinierendsten Orte der Erde, wo sich Vulkangipfel in einem Mosaik aus schneeweißen Salzflächen und tiefblauen Wasserlachen spiegeln: der Salar de Atacama inmitten der Atacama-Wüste im Norden Chiles, einer der trockensten Regionen der Erde.
Die ersten Siedler der Atacama-Wüste schufen die Legende von der Entstehung des Salzsees und retteten sie trotz der Einflüsse der Tiahuanaco-Kultur, der Inka-Dynastie und der spanischen Konquistadoren in die heutige Zeit. Die Atacameños, die vor ca. 11.000 Jahren die Oasen der Atacama-Wüste besiedelten, passten ihre Landwirtschaft den speziellen Gegebenheiten der trockenen und bergigen Wüstenlandschaft an: Als Überlebensstrategie konzipierten sie einen Terrassenfeldbau, der noch heute praktiziert wird. Diese besondere Form der Landwirtschaft zeichnet sich womöglich auch für die Namensgebung der Anden verantwortlich, denn das spanische „andén“ bedeutet so viel wie Gehweg oder Terrasse. Als die Spanier Mitte des 16. Jahrhunderts die Region eroberten und in San Pedro de Atacama eine erste Mission errichteten, fanden sie ebenjenen Terrassenfeldbau vor und benannten das Gebirge danach.
Der weinende Großvater
Der Grund für die frühe Besiedlung durch die Atacameños und für die Wasserlachen des Salar de Atacama ist der Rio San Pedro. Dieser Fluss ließ Handelsrouten von den Anden zur Pazifikküste entstehen und begründete damit auch das Oasenstädtchen San Pedro de Atacama, heute touristisches Zentrum und Ausgangspunkt für Ausflüge zu den Naturwundern der Wüste: Südlich von San Pedro erstreckt sich der Salar de Atacama über gigantische 3.000 km². Westlich des Ortes befindet sich das Valle de la Luna mit seinen bizarren Salzformationen, die an eine Mondlandschaft erinnern, und nördlich die Geysire von Tatio auf einer Höhe von 4.321 m.
Dafür gilt es nicht nur 2.000 Höhenmeter zu überwinden, sondern auch früh aufzustehen, denn die aufgehende Sonne schmilzt die nächtlichen Eishauben über den heißen Quellen, sodass bis zu zehn Meter hohe Fontänen aus dem Boden schießen. Übersetzt heißt Tatio übrigens „der weinende Großvater“. Zu verdanken ist der Name einer schneebedeckten Bergformation, die einem schlafenden Mann ähnelt. Schmilzt der Schnee im Frühling, rinnt das Wasser wie Tränen herunter.
Globalisierung im Oasendorf
Wer sich bei den Geysiren von Tatio schon am Ende der zivilisierten Welt wähnt, wird spätestens vom Oasendorf Caspana eines Besseren belehrt. Wie ein kleiner Garten Eden schmiegt sich das gemütliche Dorf in das zerklüftete, rot-braune Auf und Ab der Atacama-Wüste. Ein überraschender Farbklecks, wo gerade noch die Unerbittlichkeit der endzeitlichen Hochebene das Bild geprägt hat. Die Einwohner trotzen der Abgeschiedenheit, indem sie die Energie der Sonne für sich nutzen und damit Licht in die dunkle Wüstennacht bringen. Zu verdanken ist das zwei Frauen der Dorfgemeinschaft, die sich ein halbes Jahr lang in Indien von einer Hilfsorganisation für die Wartung von Solarpanelen ausbilden ließen. Ihr Engagement beeindruckte sogar die Lokalregierung im 85 km entfernten Calama, die dann flugs in die passenden Solaranlagen investierte.
Das Dorf Chiu Chiu erzählt hingegen nicht die Geschichte von Fortschritt und Globalisierung, sondern die von der spanischen Eroberung Südamerikas im 16. Jahrhundert. Davon zeugt heute die Kolonialkirche des Ortes, eine der ersten ihrer Art in Chile und seit 1951 Nationalmonument des Landes. Die 1611 erbaute Kirche ist jedoch nicht nur aus historischen Gründen bemerkenswert: Die Eingangstür besteht aus Kaktusholz, das mit Lederriemen zusammengebunden wurde. Nur aus den größten und ältesten Kakteen lassen sich schmale Bretter gewinnen, die wie Holz verarbeitet werden können.
Von Chiu Chiu führt die Nationalstraße Ruta 21 Richtung Norden nach Lasana. Unerbittlich und schnurgerade zieht sich die Schotterpiste durch die staubige Mondlandschaft und scheint nahtlos in den schneebedeckten Gipfel des San Pedro-Vulkans überzugehen, der mit über 6.000 m zu den höchsten aktiven Vulkanen der Erde gehört.
Das Ruinendorf Lasana versteckt sich in einem kleinen Tal und ist bekannt für seine historische Festung, die von den Atacameños erbaut wurde: Dicke Steinwälle sollten bis zu 500 Bewohner schützen, serpentinenartige Wege schnelles Eindringen von Feinden verhindern. Der Pukara, das Quechua-Wort für Festung, ist heute zwar eine Ruine, aber trotzdem noch in erstaunlich guter Verfassung. So lassen sich noch alte Wandmalereien, ehemalige Häuser, deren Dachstruktur teilweise aus Kaktusholz bestand, und Silos für die Lagerung von Lebensmitteln entdecken.
Reiche Geschichte in karger Landschaft
In Familienverbänden bauten die Atacameños Kartoffeln, Mais, Bohnen und Kürbisse auf Terrassen an. Lamas dienten ihnen als Packtiere und Woll- und Fleischlieferanten. Noch heute ist diese Form der Landwirtschaft in Oasendörfern in der Atacama-Wüste gebräuchlich. Kunza, die Sprache der Atacameños, gilt heute hingegen als ausgestorben. Die Geschichte des indigenen Volkes ist geprägt von externen Einflüssen mächtigerer Kulturen. Ende des 15. Jahrhunderts unterwarfen die Inka die Bewohner der abgelegenen Wüstenregion und integrierten sie in ihr Tributsystem. In der Folge übernahmen die Atacameños religiöse Praktiken des Inka-Sonnenkults und bauten unter anderem einen Altar auf dem Vulkan Licancabur, Protagonist der eingangs erzählten Legende. Mit der spanischen Eroberung im 16. Jahrhundert erhielt schließlich auch der christliche Glaube Eingang in das Leben der Atacameños.
Es ist diese reiche Geschichte in der so kargen Landschaft, die die Menschen in der Atacama-Wüste ausmacht und sie immer noch den lebensfeindlichen Bedingungen dort trotzen lässt. So etwa die beiden Frauen aus dem Dorf Caspana: Statt in die 160.000 Einwohner zählende Kupferstadt Calama zu ziehen, in der Strom und Wasser zur selbstverständlichen Infrastruktur gehören, nehmen sie die weite Reise nach Indien auf sich, um ihr Dorf für wenige Stunden am Abend mit Licht zu versorgen. Und vielleicht ist diese Geschichte ja der Anfang einer neuen Legende.