Auf der Sonneninsel mitten im bolivianischen Teil des Titicaca-Sees ist unser dortiger Bootskapitän Leocadio zuhause: Eine Geschichte über das Leben auf dem berühmtesten See der Welt und ein Land mit ungewisser Zukunft.
„Bolivia es mi tierra“ – Leocadio ist stolz auf seine Heimat (sp.: mi tierra). Vielleicht ist man gerade stolz, Bolivianer zu sein, wenn man in so unmittelbarer Nähe zum Nachbarland Peru aufgewachsen ist. Vielleicht liegt es aber auch einfach an dem wohl berühmtesten See der Welt, um den sich zahlreiche Legenden ranken: der Titicaca-See.
Einst soll der berühmte Schöpfergott Viracocha den Tiefen des Sees entstiegen sein und die Sonne geschaffen haben. Jene Sonne, die hier so unermüdlich scheint und die der Isla del Sol (dt.: Sonneninsel), dem Geburtsort Leocadios, ihren Namen gab. Auch über die in ihrer Form einer liegenden Katze ähnelnden Insel lässt sich eine Geschichte aus der Mythologie der Inka erzählen: So sollen die Kinder des Sonnengottes Inti, der erste Inka Manco Capac und seine Schwester Mama Ollco, zum ersten Mal auf der Isla del Sol die Erde betreten haben. Auf der Form der Isla del Sol könnte übrigens auch der Name des Titicaca-Sees beruhen. „Titi“ heißt auf Aymara „große Katze“ und „kak“ bedeutet „Felsen“. Auf Quechua heißt „titi“ hingegen „bleifarben“, wobei „qaqa“ ebenfalls „Felsen“ bedeutet.
Bolivien: Evo Morales, Quinoa, Lithium und die Seilbahn von La Paz
Beide Sprachen sind die weit verbreitetsten indigenen Sprachen in Südamerika und werden in Bolivien noch von jeweils bis zu 20 % der Bevölkerung gesprochen. Der Anteil der indigenen Bevölkerung ist in Bolivien mit über 50 % so hoch wie in keinem anderen südamerikanischen Land. So wundert es nicht, dass 2006 mit Evo Morales erstmals ein Präsident mit indigener Abstammung gewählt wurde. Auch Leocadio gehört zur indigenen Bevölkerung Boliviens und hatte sich vor zehn Jahren über die Wahl gefreut, doch heute äußert er sich ernüchtert: „Das Leben der indigenen Bevölkerung hat sich in den letzten Jahren nicht verbessert. Es ist richtig, dass er nicht noch einmal gewählt werden kann und er die Regierung nach der nächsten Wahl anderen überlassen muss.“ 2019 endet die vierte Amtsperiode von Evo Morales, die der ehemalige Coca-Bauer gerne verlängert hätte. Doch die bolivianische Verfassung verbietet eine fünfte Amtszeit, sein Referendum zu einer Verfassungsänderung lehnten die Bolivianer im Februar ab. Gleichwohl gelang Evo Morales in den letzten zehn Jahren als Präsident ein wirtschaftlicher Aufschwung, den Bolivien dringend brauchte. So galt das Land lange Zeit als das ärmste und exportschwächste Südamerikas und das trotz seines großen Reichtums an Bodenschätzen. Durch die Verstaatlichung der Erdgasindustrie stiegen die Einnahmen des Landes jedoch bis 2013 um 460 %, sodass die extreme Armut stark reduziert werden konnte.
Wer sich ein bisschen mit Bolivien beschäftigt, trifft aktuell auf drei zukunftsweisende Schlagwörter: „Quinoa“, „Lithium“ und „Seilbahn“. Während letztere in der Hauptstadt La Paz bereits ihren Dienst verrichtet und als Erfolgsstory gilt, stecken in den anderen beiden Schlagwörtern Chancen und Risiken zugleich. Im berühmten Salar de Uyuni wird die Hälfte des weltweiten Lithium-Vorkommens vermutet. Das begehrte Alkalimetall ist wichtiger Bestandteil von Akkus und Batterien und verspricht Bolivien ein Wirtschaftswunder, doch bisher fehlt das nötige Know-How für die Verarbeitung des Metalls. Eine eigens eingerichtete Pilotfabrik in der Silberstadt Potosí soll das ändern, jedoch werden bereits Stimmen laut, die ein Scheitern des ambitionierten Vorhabens prognostizieren. Ein anderer Heilsbringer könnte die Quinoa-Pflanze sein, die schon seit Jahrtausenden traditionell im Hochland Boliviens angebaut wird. Sie ist besonders nährstoffreich, wächst selbst bei extremen Bedingungen und gilt damit als „Wunderwaffe“ gegen den weltweiten Hunger. In westlichen Ländern erfreut sich Quinoa als Trend-Lebensmittel großer Beliebtheit und wird gerne als „Superfood“ bezeichnet. Die stark gestiegene Nachfrage ließ jedoch auch die Preise in die Höhe schnellen, sodass sich die meisten Bolivianer ihr eigenes Anbauprodukt nicht mehr leisten können – sogar importierter Reis ist mittlerweile billiger.
Leocadio: Bauer, Bootskapitän und gute Seele
Leocadio bekommt auf der Isla del Sol von all dem nichts mit, er bewirtschaftet mit seiner Familie sein eigenes kleines Reich: „Wir bauen neben Bohnen auch Kartoffeln, Oca, Weizen, Gerste und Mais an. Die Bohnen verkaufen wir auch auf dem Markt, alles andere ist nur für unseren eigenen Bedarf.“ In Yumani, im Süden der Isla del Sol, ist Leocadio aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat danach auch sein ganzes Leben dort verbracht. Für die indigenen Gruppen der Quechua und Aymara sind der Titicaca-See und die Isla del Sol heilig. Reste des von den Inka errichteten Sonnentempels zu Ehren Viracochas und der „Heilige Felsen“, auf den der erste Inka seinen Fuß setzte, ziehen Besucher aus aller Welt an. Warum also diesen Ort verlassen?
Leocadio kann indes selbst der mühseligen Arbeit auf dem Feld etwas Positives abgewinnen: „Je nach Jahreszeit arbeiten wir zwischen zwei und acht Stunden am Tag auf dem Feld. Das ist nicht nur unsere Arbeit, sondern auch ein gutes Training.“ Neben seiner Heimat macht ihn übrigens auch eine andere Berufung stolz: „Es ist eine Ehre, Kapitän eines Bootes auf dem Titicaca-See zu sein. Er ist ein sehr großer und wunderschöner See. Menschen aus der ganzen Welt besuchen uns, um ihn zu sehen.“ Bevor der Titicaca-See den WORLD INSIGHT-Reisegruppen ein Lächeln auf die Lippen zaubert, wird Leocadio seinen Gästen bereits ein Lächeln geschenkt haben. Nicht nur, dass unser Bootskapitän auf dem „heiligen“ See über lebenslange Erfahrung verfügt, auch dank seiner gewinnenden Art, fühlt man sich bei Leocadio stets sicher. Und wen der Anblick des Titicaca-Sees wider Erwarten völlig kaltlässt, der weiß spätestens beim Besteigen von Leocadios Boot, dass er sich an einem besonderen Ort befindet.