WORLD INSIGHT-Geschäftsführer Otfried Schöttle entdeckte ein Kolumbien zwischen Magie und Wirklichkeit: Bei Begegnungen mit Indígenas, in einer vor Lebenslust brodelnden Hauptstadt und beim Trekking zur Ciudad Perdida.
Wenn der japanische Schriftsteller Haruki Murakami in seinem Roman 1Q84 von „Little People“ spricht, dann meint er damit kleine Wesen einer Parallelwelt, die dem Menschen seiner Individualität berauben, indem sie fantastische „Puppen aus Luft“ spinnen – er geht im Meer willenloser Seelen unter. Das Volk der Kogui nennt uns „Little People“ oder „kleine Brüder“, deren Werte einheitlich und global sind und aus iPhone, Starbucks und Co. bestehen. Wir nennen das Fortschritt. Die Kogui, die im Regen- und Bergwald der Sierra Nevada Kolumbiens wie Zauberwesen durch die Wälder huschen, pfeifen drauf: Sie stellen diesen technischen Errungenschaften Geister, Ahnen und andere Lebensideen entgegen. Mehr noch: Sie wollen uns beschützen – vor Gleichheit, vor der Versuchung im globalen Einheitsbrei unterzugehen und nur dem zu glauben, was man sieht.
Die Antwort der Kunst auf diese Unterwerfung an die Wissenschaft ist der „realismo mágico“, der magische Realismus, der von keinem so gut bedient wird wie vom Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez. Und kein Wunder, dass der gerade aus Kolumbien stammt. Einem Land, wo man Menschen wie den Kogui begegnet, wo Pumas und Jaguare durch dichte Regenwälder streifen, wo Aras und Brüllaffen im Dschungel herrliche Konzerte geben, wo Wachspalmen bis zu 60 Meter hoch werden, wo Flüsse wie der Caño Cristales rötlich schimmern, da verschwimmen Phantasie und Wirklichkeit schon einmal. Erfinden wir unser Denken also neu und lassen uns auf ein Land ein, das reichlich Raum für viele Welten gibt: Für „Puppen aus Luft“, für Geister, für Ideen eines Murakamis oder Márquez‘, für iPhones und Starbucks, für Träume und Wirklichkeit – willkommen in Kolumbien!
An der Brust von Pachamama
Die erste Station auf unserer Reise führt Stephan und mich in das kleine Bergdorf Salento, unweit des traumhaft schönen Cocora-Tales. Und in die Arme von Tarzan, der eigentlich Luiz Eduardo heißt und der Typ von Mann ist, den man nicht einen Tag lang mit seiner Frau auf einer einsamen Insel zusammenlassen möchte. Trotz seiner 61 Jahre. Trotz seiner Zahnlücken. Unser lokaler Guide ist ein Bär von einem Mann, hat viele Jahre in Mainz gelebt, war Unterwäschemodel für Quelle und leitet heute Touren durch seine Heimat, das Cocora-Tal.
Der Mann, dessen Mutter vom lokalen Volk der Emberá stammt und dessen Vater jene zur Geliebten hatte, macht keinen Hehl daraus, dass er ein wahrer kolumbianischer Mann und Eroberer von Frauenherzen ist. Und wer Tarzan so anschaut und erlebt, weiß genau, dass nichts von seinen Prahlereien gelogen ist.
Aber Tarzan ist nicht nur ein Macho, wie er im Buche steht und der Márquez‘ potenter Titelperson in „Hundert Jahre Einsamkeit“, dem Oberst Aureliano Buendía, alle Ehre gemacht hätte, er ist auch ein begeisterter Vertreter seiner Indígena-Kultur, die sich tief verwurzelt mit „Pachamama“ sieht, der „Mutter Erde“ in der Sprache der Quechua. „Ihr müsst die Natur nicht nur sehen, sondern spüren und fühlen“, erklärt er. Und wir folgen ihm: Schließen die Augen und nehmen an einem indianischen Ritual auf einem Bergrücken teil, inmitten der traumhaft schönen Landschaft des Cocora-Tales. Herrliche Gipfel umgeben uns, tropischer Primärregenwald und die berühmten Wachspalmen, die exklusiv nur hier vorkommen und erstaunliche Höhen erreichen. Über uns kreisen die Andenkondore, die Könige der Lüfte, die sich ohne Flügelschlag nur dank der Thermik stundenlang durch die Luft und in die Höhe treiben lassen.
Für die Indígenas sind Höhe und Berge von enormer Bedeutung: Die heiligsten sind gleichzeitig die höchsten Gipfel der Zentralen Andenkordillere, der Nevado de Santa Isabel und der Nevado del Ruiz mit rund 5.000 Metern Höhe, zu allen Jahreszeiten schneebedeckt. Hier ist der Sitz der Ahnen und Geister. „Je älter man wird, desto mehr müssen wir in die Berge“, erklärt Tarzan, denn in den Bergen sammelt der Emberá neue Energie: Energie für das Verlassen seiner Gemeinschaft, für die Einsamkeit, nicht mehr von jener gebraucht zu werden, weil die Kräfte schwinden. Mit dem Tod wird der Indígena endgültig zum energetischen Wesen: „Wir kehren nicht als Menschen zurück, sondern als Geisterwesen, die sich fortan aber nicht mehr nur um die Familie, sondern um die Gesellschaft und seine Umwelt als Ganzes sorgen“.
Die Umwelt und Natur: Sie ist die wahre Mutter der Indígenas. Und bei unserer Zeremonie wollen wir ihr ganz nahe kommen. Wir spazieren erst barfuß, dann legen wir uns mit dem ganzen Körper auf den Boden, um Pachamama zu „begreifen“. Nichts ist lächerlich an der Aktion, auch nicht unsere drei Sprünge in die Luft, wo wir uns der Weite des Tales öffnen. Tarzan, der Macho, wird zum sensiblen Botschafter seiner Kultur, die er mit Inbrunst lebt und wo wir in diesem Moment erfahren, wieviel wir davon lernen können: Wirklich anzukommen, auf die Natur zu hören – auf das Plätschern des Río Quindío, auf die Rufe der Papageien, auf das Rauschen des Windes. Mit einem Mal sind wir weit weg von Büro und Alltag, angekommen im Hier und Jetzt, im fantastischen Cocora-Tal bei Pachamama, bei den Geistern verstorbener Caciques (Stammeshäuptlingen) oder Schamanen (geistige Oberhäupter der Indígenas) und natürlich bei Cocora, der einst wunderschönen Indianerprinzessin, die dem Tal seinen Namen gab, was so viel heißt wie „Sternenhimmel“.
Kunst und Kaffee
Mit dem Mountainbike fahren wir anschließend von Salento aus zu einer Kaffeeplantage. Kolumbien ist nach Brasilien und Vietnam der drittgrößte Produzent von Kaffee. José führt uns durch die 5.000 Hektar große Anlage, die auf einer Höhe von knapp 1.800 Metern liegt – ideal für den Kaffeeanbau. Von der Aussaat der Pflanze bis zur Ernte der Bohnen vergehen zwei Jahre, dann trägt die Pflanze zwanzig Jahre lang Kaffeekirschen, bis man sie kahl schlägt und eine neue Saat pflanzt. Die Pflücker werden nach Kilos bezahlt, erhalten 500 Pesos für eins und schaffen bis zu 30 Kilos am Tag – „ein Knochenjob“, wie José erklärt, bis zu acht Stunden seien die Arbeiter mit dem Einsammeln dieser Menge beschäftigt.
Auf einer anderen Kaffeefinca, in der auch unsere WORLD INSIGHT-Reisegäste übernachten, führt uns der Besitzer Manuel Sabogal durch die Anlage. Die Finca selbst ist mehr als 130 Jahre alt, seit zwölf Jahren verkauft er jedoch nicht mehr nur Kaffee, sondern auch Zimmer an Touristen. Das Haupthaus für die Gäste hat viel Charme aus kolonialen Tagen: Mit Wasserrohren aus Kupfer und Gemälden des kolumbianischen Malers Enrique Grau an der Wand. „Kunst und Kaffee sind eng miteinander verwandt“, sagt Manuel: Ein Grund, warum er seine Kaffeesorten auch „Inspiración“ genannt hat. Und in der Tat, verfolgt man die Prozesse, die lange harte Arbeit, die Zeit, die benötigt wird, um eine gute Tasse Kaffee zu erhalten, grenzt dies tatsächlich an Kunst: Denn mit dem Ernten ist die Arbeit natürlich nicht getan, es folgen Schälen, Trocknen und Sortieren nach Qualität: Die guten sind für den Export bestimmt, die zweite Wahl für den lokalen Markt.
Am Ende wissen wir von dem Getränk, das nach Wasser weltweit am meisten getrunken wird und das nach Öl das wichtigste Handelsgut an der New Yorker Börse ist, dass wir bis dato nichts wussten – auch weil wir durch Cappuccinos, Latte Macchiatos und Co. durch Milch und Zucker geschmacklich so verdorben sind, dass wir die wahre Größe von gutem Kaffee heute nur noch schwer erkennen. Wir geloben gegenüber José und Manuel Besserung und schon am Abend sitzen Tarzan, Stephan und ich nur noch bei Filterkaffee ohne Milch und Zucker im Café „Esquina“ im Herzen von Salento: Tarzan erzählt von seinem Papa, der insgesamt 24 Kinder mit mehreren Frauen hatte, und vom berühmten Volksmusiksänger Diomedes Díaz, der es gar auf 31 brachte. Wer Tarzan erlebt hat, glaubt ihm all diese Geschichten und was dem Leser von Márquez‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“ früher Spanisch vorkam, dem wird jetzt bewusst, dass mehr Wahrheit als „Fantasía“ in dessen Geschichten liegt.
Die Hauptstadt
Ein kurzer Flug bringt uns nach Bogotá. 2.200 Meter hoch liegt die Hauptstadt Kolumbiens, die erst in den vergangenen 80 Jahren richtig zu wachsen anfing. Heute ist sie eine Metropole mit mehr als acht Millionen Einwohnern.
Den massiven Verkehrsproblemen wollen die Stadtväter seit einem halben Jahrhundert mit einer U-Bahn beikommen. Doch außer vollmundigen Versprechungen der Bürgermeisterkandidaten in den jeweiligen Wahlkämpfen passierte nicht viel. Gelder versanken in dubiosen Kanälen und statt einer Metro brausen die riesigen Transmilenio-Busse auf einer separaten Fahrspur durch die Stadt. 2.000 Pesos, umgerechnet 70 Cent, kostet die Fahrt, egal wohin – ein leistbarer Betrag, denn der aktuelle Bürgermeister Enrique Peñalosa setzt auf Ausgleich: So ist die Stadt in sechs Zonen eingeteilt, wobei Zone eins die ärmste, Zone sechs die reichste ist. Das stigmatisiert zwar, schafft aber auch Fairness, weil die Bewohner der reichen Stadtteile viel mehr Abgaben zahlen müssen als die der armen.
Auch beim Thema Sicherheit kennt man in Bogotá keine Kompromisse: Seit der Präsidentschaft von Álvaro Uribe im Jahr 2002 bekämpft das Militär nicht nur die Drogenkartelle, sondern auch sonstige Kriminalität. Man darf sich also nicht wundern, wenn man in der Stadt bewaffnete Männer in Uniform sieht. Der Lohn dafür ist eine für lateinamerikanische Verhältnisse überdurchschnittlich sichere Großstadt, auf deren Straßen man sich unbeschwert bewegen kann, sofern man die üblichen Vorsichtsmaßnahmen einhält: Das heißt kein teurer Schmuck am Hals, keine Abstecher in so genannte No-Go-Areas. Dann erlebt man eine bunte Hauptstadt mit außergewöhnlich netten Menschen.
Stephan lebt seit fünf Jahren hier. Und wir machen uns auf Entdeckungstour: Erst zum riesigen Plaza de Bolívar, dann mit der Seilbahn auf den 3.152 Meter hohen Monserrate, den Hausberg der Stadt, von dem wir eine herrliche Aussicht genießen, schließlich zum Goldmuseum mit den prächtigsten Fundstücken altamerikanischer Kulturen in ganz Südamerika. Das eigentliche Highlight der Stadt sind für mich aber die Straßen, auf denen das Leben tobt, manchmal sogar verrückt ist: Michael Jackson Doubles, Rapper, Bands, Tänzer des neuen „Salsa Chokes“ – die Straßenkunst ist so bunt, wie die zahlreichen Graffitis an den Wänden vieler Häuser, die das neue Leben Bogotás zeigen, sich aber auch immer wieder kritisch mit der jüngeren Vergangenheit von Terror, Krieg und Drogen auseinandersetzen.
Und wer eine Pause von all den vielen Eindrücken braucht, der findet diese in den vielen kleinen Cafés, wo man neben Kaffeesorten aller Wahl auch den berühmten Coca-Tee für etwa 1.000 Pesos (40 Cent) die Tasse bekommt.
Es bleibt bunt: Am Abend führt mich Stephan ins „Andrés Carne de Res“ nach Chía, einem Vorort von Bogotá. Hier treffen sich die „Rolos“ oder „Cachacos“, wie sich die Einwohner Bogotás nennen, zum Feiern: Bestes Steak, bester Wein, beste Cocktails und jede Menge, wie könnte es in Kolumbien anders sein, Verrücktheiten – „Polizisten“ achten darauf, dass man nach dem Essen seinen Hintern gefälligst zum Salsa bewegt, „zwielichtige“ Models animieren, Diven sorgen mit kleinen Bands an jedem Tisch für reichlich Krach – alles ist so harmlos, dass Familien hier gerne ihre Geburtstage feiern, es geht allen einfach nur darum Spaß zu haben und eine coole Zeit zu verbringen.
Villa de Leyva und das Volk der Muisca
„El Paseo“ – das ist die Komödie im kolumbianischen Fernsehen, die sich darum dreht, wie eine kolumbianische Familie im Jahr 2007 auszog, um sich ihr eigenes Land anzuschauen. Ein neues Auto, drei Kinder und ganz viel Entdeckerlust im Gepäck. Stephan und ich sind auf dem Weg nach Villa de Leyva und es ist schwer vorstellbar, dass diese Strecke bis 2002 noch unbefahrbar gewesen ist: Überfälle, Entführungen, im schlimmsten Fall Tote. Erst nach Uribes konsequenter Politik, mit Hilfe des Militärs die FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) und andere paramilitärische Gruppen zu bekämpfen, war der Weg für die Kolumbianer frei, im eigenen Land zu reisen: Erst im Konvoi, später auf eigene Faust.
Auf der neuen Freude, das eigene Land zu entdecken, basiert der selbstironische Streifen, der die mangelnde Reiseerfahrung der Familie aufs Korn nimmt. Wir fahren wie im ganzen Land auf sehr gut ausgebauten Straßen: Eine großartige Bauleistung angesichts der Kürze der Zeit nach dem politischen Chaos, dass FARC, ELN (Ejército de Liberación Nacional), korrupte Politiker und Drogenbarone à la Pablo Escobar die letzten 40 Jahre hinterließen. Hinzu kommt die nicht eben einfache Topographie der Anden, die den Ausbau der Infrastruktur erschwert.
Villa de Leyva ist ein hübscher Ort im kolonialen Stil inmitten herrlicher Berge der zentralen Andenkordillere: Malerisch liegt er umgeben von Wüsten, Nebel- und Regenwäldern sowie den bekannten Páramo-Landschaften (eine Vegetationsform in den Tropen in einer Höhe von 3.200 bis 4.800 Metern). Wohlhabende Leute aus Bogotá haben sich hier einen Zweitwohnsitz errichtet, deren prächtige Häuser sich von den einfachen Bauernhäusern der lokalen Bevölkerung in Größe und Luxus unterscheiden. Seit jeher ist der Ort Anziehungspunkt für lokalen Tourismus, seit der Befriedung des Landes auch ausländischer Reisender, die hier über die kopfsteingepflasterten Straßen flanieren, in den kleinen Cafés verweilen, Kunsthandwerk erstehen und die Umgebung des Ortes entdecken.
Ein Ziel ist das etwa fünf Kilometer außerhalb von Villa de Leyva gelegene Kloster Ecce Homo, das die Dominikaner ohne Scham direkt auf einer Siedlung der Muisca-Indianer errichteten. Die Eindringlinge verachteten nicht nur die Götter des friedfertigen Volkes, sondern auch die Menschen: Selbst als Dienstpersonal hielten die christlichen Glaubenshüter die Urbevölkerung für ungeeignet – man lehrte sie die Kunst des Webens, lästerte jedoch über ihre Langsamkeit und Unlust. Andererseits integrierte man prächtige Muster der Muisca-Gewänder in die eigene Kleidung.
Die Muisca selbst hinterließen etwas außerhalb von Villa de Leyva ein geistiges Zentrum, das der ortsansässige Francisco, mit dem Stephan und ich eine Mountain-Bike-Tour unternehmen, als das „Stonehenge“ Kolumbiens bezeichnet. Es ist das Observatorio Astronómico de Zaquencipa, das die spanischen Einwanderer einst als „Hölle“ bezeichneten. Und auch heute noch, so versichert Francisco, gäbe es einige streng katholische Ortsbewohner, die in dem Ort etwas Teuflisches sehen würden. Mit den phallusförmigen Steinbauten huldigten die Muisca ihren wichtigsten Gottheiten. Zudem errichteten sie Steine für einen Sonnenkalender, der ihnen mithilfe wandernder Schatten das Fortschreiten des Jahres anzeigte.
Wie bei anderen indigenen Völkern Kolumbiens gab es auch bei den Muisca die Mutter Erde (anders als bei den Emberá, hieß diese aber nicht Pachamama sondern Hicha Waïá) und den Vater Goranchacha. Die Erde symbolisierte Wasser, Goranchacha die Sonne, die golden war. Zu Zeremonien wurde deshalb der Cacique oder der Schamane mit Goldstaub bedeckt. Sie fuhren als Vertreter der Götter aufs Wasser (bei den Muisca war dies der See von Iguaque hinter der Bergkordillere von Villa de Leyva), um Gold darin zu versenken. Die Männer waren Auserwählte, die die Vereinigung von Mutter und Vater vollzogen. Mit dem Versenken von Gold in Seen und Lagunen war die Legende vom „El Dorado“ für die spanischen Eroberer geboren. Und es galt, die Schätze zu heben, was über die Jahrhunderte auch getan wurde.
150 Millionen Jahre vor den Muisca lebte ein etwa zehn Meter langer Kronosaurus, ein Pliosaurier, in der Region um Villa de Leyva. 1977 wurde er von Bauern gefunden und ist seither der Star unter den vielen Fossilien, deren Knochen sich im Laufe der Jahrmillionen in der zentralen Andenkordillere mineralisierten und versteinerten. Diese Relikte aus der Jura-Zeit finden sich heute zu Tausenden in den Gemäuern der historischen Altstadt, aber „DAS FOSSIL“, wie es von den Einheimischen ehrfurchtsvoll genannt wird, liegt heute zur Ansicht aller in einem kleinen naturhistorischen Museum vor den Toren der Stadt. Sogar der Priester von Villa de Leyva schenkte ihm seinen Segen.
Bunt wie ein Regenbogen: Cartagena und die Karibikküste
Wir fliegen weiter nach Cartagena in die Karibik und begegnen dort dem Mann, der so schöne Werke wie „Hundert Jahre Einsamkeit“ oder „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ verfasst hat. Und von dem man das Gefühl hat, als betrachte jeder Kolumbianer ihn als Familienmitglied: Gabriel García Márquez.
Nachdem der beim Volk beliebte Präsidentschaftskandidat Jorge Eliécer Gaitán in Bogotá ermordet worden war, was den so genannten „Bogotazo“ auslöste (die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Konservativen), zog der Schriftsteller 1948 von der kolumbianischen Hauptstadt in die bildhübsche Metropole an der Karibikküste. Doch Cartagena beeindruckte Márquez nicht nur durch seine koloniale Schönheit, sondern vor allem auch durch Stadtteile wie Getsemaní und El Arsenal, in denen sich der Charme 300 Jahre dauernder Seefahrerei bewahrt hatte, wo düstere Kneipen neben Freudenhäusern lagen, in denen der Künstler einen fruchtbaren Boden für die Geschichten seines „magischen Realismus“ fand.
„Gabriel liebte das Leben und in den zwielichtigen Ecken Cartagenas fand er Inspiration“, erklärt Eduardo, ein echter Sohn Cartagenas und unser Begleiter auf unserem Rundgang durch die Stadt. Obwohl Márquez nur zwei Jahre in Cartagena blieb, hinterließ er deutliche Spuren. Nicht in der Stadt selbst, sondern vor allem in seinen Büchern.
„Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ spielt im Ort und in „Erinnerung an meine traurigen Huren“ (Memoria de mis putas tristes) bewahrt er die Geschichten und das Leben derjenigen, die ihm jahrelang Stoff für seine manchmal wilden Romane lieferten.
Wo früher die Freudenhäuser waren, stehen heute fein restaurierte Stadtviertel. Doch trotz des Faceliftings umgibt Cartagena auch jetzt noch der Charme aus alten Tagen, an dem die Stadt Umschlagplatz für Gold und Edelsteine war, wo Schiffe aus Spanien anlandeten, um die Schätze aus Lateinamerika nach Europa zu bringen, wo die ersten Sklaven aus Afrika eintrafen, um in der Neuen Welt den Conquistadores zu dienen und wo Seeräuber, wie der legendäre Francis Drake, wüteten. Wir spazieren die historische Stadtmauer entlang, die einst Cartagena vor Eindringlingen schützen sollte. Statt Kanonen verweilen seit dem letzten Jahrhundert Liebespaare in den Schießscharten der Mauer.
Eduardo bekommt feuchte Augen, wenn er an seine eigene Jugend zurückdenkt: „Hier habe ich immer auch mein Mädchen getroffen. Geschützt vor den Blicken anderer“. Kolumbianer sind hoffnungslose Romantiker und das Alter macht keinen Halt vor Feuer und Leidenschaft.
Feurig sind auch die Besucher am Abend in der berühmten Salsa-Bar „Donde Fidel“. An der Wand hängen Hunderte von Fotos, die den mittlerweile fast 70-jährigen Besitzer Fidel mit allerhand illustren Persönlichkeiten zeigen. Auch wenn das Licht aus den Neonröhren eher an ein städtisches Finanzamt erinnert, tanzen die Menschen bei reichlich „Club Colombia“ (lokale Biersorte) und Aguardiente (Rum) zu Rhythmen bekannter Salsa-Größen wie Joe Arroyo oder Willy Colon. Der Altersunterschied eines manchen Tanzpaares ist so auffällig, dass böse Menschen denken könnten, Márquez‘ traurige Huren könnten auch heute noch in und um die Altstadt aktiv sein.
Das schweißtreibende Highlight: „Ciudad Perdida“
Zurück zu den „Little People“. Vier Autostunden von Cartagena entfernt liegt der Ausgangspunkt für unsere Trekkingtour zur „Ciudad Perdida“, der „Verlorenen Stadt“ in Kolumbiens Sierra Nevada: Mamey. 23 Kilometer ist der einfache Weg von hier bis zu den entlegenen Ruinen, die Schatzsucher 1972 mitten im Dschungel entdeckten. Sie nannten die Stätte zunächst „infierno verde“, die „grüne Hölle“, weil dort, wo das Volk der Tayrona vor etwa 1.200 Jahren ein herrliches Zeremonienzentrum errichtet hatten, Unmengen Moskitos in der schwül-heißen Luft schwebten, der Jaguar herumstreifte und giftige Schlangen entlang schlichen. Ganz zu schweigen von dem bergigen Terrain, das jedes Fortkommen zur Mühsal werden ließ, den heftigen Regengüssen und der Einsamkeit einer Region, die seit Jahrtausenden nur indigenen Volksgruppen vorbehalten war.
Eine davon sind die Kogui, die als Halbnomaden von der Küste bis in 2.800 Meter Höhe leben und deren Gottheiten und Geister in den Gipfeln der mehr als 5.000 Meter hohen Berge Pico Bolívar und Pico Colón beheimatet sind. Sie nennen sich selbst „die Hüter der Welt“ und uns ihre „kleinen Brüder“, auf die man aufpassen muss: Sei es, weil sie wie die einstigen spanischen Einwanderer ihren Lebensraum bedrohen, sei es, weil sie wichtige Werte vergessen haben, weil sie Menschen wie Trump, Putin, Le Pen oder Parteien wie die AfD wählen.
Die Kogui werden uns auf unserem langen Weg immer wieder begegnen. Dort, wo wir mit Mühe einen langen Hang hinaufsteigen, scheinen sie in ihren weißen Gewändern und in ihren Gummistiefeln mit Leichtigkeit an uns vorbei zu schweben. Fotografiert werden wollen sie nicht, man muss ihre hübschen Gesichter mit den hohen Wangenknochen, den etwas breiten platten Nasen und den Mandelaugen, den dichten, durch Mittelscheitel nach beiden Seiten elegant fallenden Haaren also im Gedächtnis behalten, um ihr Bild zu bewahren.
Stephan und ich haben ein ambitioniertes Vorhaben: Einen Weg, von dem National Geographic schreibt, man brauche dafür sechs Tage und er sei das ultimative „Indiana Jones Abenteuer“, wollen wir in zwei bewältigen. Wer einen Halbmarathon flott läuft, weiß, dass man eine solche Strecke in gut 1,5 Stunden schaffen könnte – nicht aber mit zehn Kilogramm Gepäck auf dem Rücken, auf rutschigem Terrain über viele Hügel: Am Ende werden es insgesamt etwa 2.000 Höhenmeter gewesen sein, die wir an beiden Tagen zurückgelegt haben, auch wenn in Luftlinie der Höhenunterschied zwischen unserem Ausgangspunkt und der Ciudad Perdida nur 600 Meter beträgt. Zwölf Stunden wandern wir hin, zwölf zurück.
Die Gäste unserer aktiv-Plus-Reise jagen wir selbstverständlich nicht in diesem Tempo nach oben: Sie entdecken die verlorene Stadt in vier Tagen – ausreichend Zeit, um anzukommen, sich aber unterwegs auch nicht zu langweilen, denn bei den besagten sechs Tage von National Geographic wird in jedem Camp Station gemacht, was gerade einmal drei Stunden Trekking pro Tag beinhaltet.
Und die Camps sind nicht gerade das pure Vergnügen: Der Komfort besteht aus drei bis vier Duschen mit kaltem Wasser für bis zu 60 Gäste, ebenso wenigen Toiletten, einer hygienisch nicht gerade reinen Matratze oder Hängematte und einfachen Decken. Wenn es regnet (und das tut es zu allen Jahreszeiten öfters am Tag), machen dem abenteuerlustigen Wanderer Nässe, klamme Kleidung, tagsüber Hitze, nächtliche Kälte und Moskitos zu schaffen.
Entschädigt werden diese Strapazen jedoch in jedem Fall, denn das Erlebnis „Ciudad Perdida“ ist tatsächlich ultimativ: Die einzigartige Berglandschaft, der reißende Buritaca-Fluss, den man mehrfach überquert, die Steinzeichnungen der Tayrona-Indianer, der Aufstieg über die 1.200 Stufen zur „Verlorenen Stadt“, schließlich der atemberaubende Blick auf die Stätte, umrahmt von den riesigen sattgrünen Gebirgsketten der Sierra Nevada – allesamt unvergessliche Eindrücke!
Nach einer Nacht im Camp „El Paraiso“ erreichen wir die „Ciudad Perdida“ am frühen Morgen, bevor alle anderen Trekker da sind: Noch liegen die ovalen Steinfundamente, die die Basis für die „Malokas“ waren (Rundhütten aus Holz, die als Zeremonienstätten dienten und heute verfallen sind), im Schatten der Berge, bis langsam die Sonne über die Kämme steigt, um das ganze Schauspiel in ein strahlendes Licht zu setzen. Es sind magische An- und Augenblicke! Wir entdecken große Steintafeln, auf denen die Tayrona ihr Universum darstellten – ihre kleinen Gehöfte inmitten der Regenwälder, die Wege dazwischen und schließlich die Verbindung zu den heiligsten Bergen, dem Pico Bolívar und dem Pico Colón. Zwischen 700 und 1600 unserer Zeitrechnung lebten 2.000 Menschen in der Region der heiligen Stätte, die die einwandernden Spanier niemals entdeckten.
Der Luxus ist die Natur
Zurück an der Küste erleben wir an den Stränden von Palomino binnen kurzer Zeit ein weiteres Paradies: Nach unserer Nacht in der Hängematte und mit 24 Stunden Wanderung in den Knochen genießen wir den einfachen Luxus einer eigenen Dusche, eines sauberen Bettes und keines Schnarchens des Nachbarn in unserer ökologisch errichteten Unterkunft El Matuy. Die Luft weht angenehm kühl von den Bergen des höchsten Küstengebirges der Welt, der Sierra Nevada, hinab und sorgt für angenehmes Klima. Das Rauschen des Meeres klingt dazu wie Musik in unseren Ohren und lässt uns wie Babys schlafen.
Wie neugeboren fühle ich mich deshalb am nächsten Morgen, als ich die Augen aufmache und der herrlichen Natur um mich herum gewahr werde: der Schreie des Papageis und des Tukans, das Surren der Zikaden, die Rufe der Brüllaffen. Stephan und ich frühstücken unter Palmen, unsere Blicke verlieren sich dabei über die Weite des Meeres – Travellerherz, was willst du mehr! Wir schauen zurück auf eine Reise durch ein Land, das so bunt ist wie ein Regenbogen über dem Amazonas, wo Wirklichkeit und Träume zu verschwimmen scheinen, wie die Farben und Figuren des kolumbianischen Malers Fernando Botero.